Wie Du mit Hilfe Deiner Beobachtungsgabe für mehr Gleichberechtigung sorgen kannst.
Hast Du wieder Lust auf eine Selbst-Reflektionsfrage? Schließe gleich einmal die Augen und stelle die Frage nach innen:
„Wie gelingt es mir, alle Mitarbeiter:innen im Team gleich zu behandeln?“
Wenn ich diese Frage in Coachings stelle, braucht es meistens eine Weile, bis die Führungskraft „zurückkommt“. Diese Frage stellt sie sich häufig nicht und das Unterbewusstsein benötigt Zeit um diese „Daten“ herauszusuchen und zusammenzustellen.
Wie lautet Deine Antwort?
„Das kann ich nicht, bemühe mich aber!“ oder
„Bei manchen Mitarbeiter:innen fällt es mir extrem schwer!“ oder
„Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil es mir nicht bei allen gelingt!“ oder
„Das gelingt mir gut! Das ist mir extrem wichtig und ich achte sehr genau darauf!“
Viele Führungstheorien gehen ja davon aus, dass Vorgesetzte beständig und undifferenziert ein relativ gleiches Führungsverhalten an den Tag legen. Dies wird auch in vielen Organisationen gefordert. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?
Wie viel Zeit bietest du als Führungskraft deinen einzelnen Mitarbeiter:innen für einen persönlichen Austausch an? An wen verteilst du die zeitintensiven, aber wenig prestigeträchtigen Aufgaben? Und an wen die spannenden, innovativen Projekte?
Gleichbehandlung und Gleichwertigkeit gehören zur Gruppe der Gerechtigkeits-Bedürfnisse. Bei vielen Menschen sind diese Bedürfnisse stark ausgeprägt und sorgen bei Nichterfüllung für Unzufriedenheit.
Professor Dr. Weibler beschreibt aktuell dazu folgende Theorie, Grundideen und Empfehlungen in Leadership Insiders:
Die Dyadentheorie:
Die einflussreiche Dyadentheorie der Führung sieht die Art und Weise der Beziehungsqualität zwischen Führendem und Geführten als Schlüssel für Zufriedenheit und Aufstiegschancen. Diese ist im Team aber nicht gleichverteilt. Anlass ist die Beobachtung, dass Führungskräfte sich in der Regel offensichtlich unterschiedlich gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verhalten. Auch verhalten sich Mitarbeiter einer Arbeitsgruppe wiederum unterschiedlich gegenüber Vorgesetzten.
Die Grundidee
Die Grundidee der LMX-Theorie (Leader-Member-Exchange Theory) hat ihren Ursprung in der Beobachtung, dass Führende sich nicht gegenüber allen ihren Mitarbeitern gleich verhalten, sondern die stets begrenzten Ressourcen selektiv auf ihre Mitarbeiter:innen verteilen. Damit gehen sie qualitativ unterschiedliche Austauschbeziehungen mit ihren Mitarbeitern ein, d. h. die Führer-Geführten-Beziehung wird hinsichtlich ihrer Qualität weder über alle Geführten hinweg als homogen (gleichartig) angenommen noch wird ursprünglich davon ausgegangen, dass dies überhaupt erstrebenswert sei. Vielmehr gebe es so viele unterschiedliche Führungsbeziehungen wie eine Arbeitsgruppe Mitarbeiter hat.
So wird angenommen, dass die einzelnen Führungsbeziehungen auf einem gedachten Kontinuum zwischen den Polen „low-quality exchange relationships“ und „high-quality exchange relationships“ (Graen/Uhl-Bien 1995) variieren. Die Qualität der Führungsbeziehungen ist auf diesem Kontinuum jedoch nicht normalverteilt. Hochqualitative, soziale Austauschbeziehungen bestehen nur mit wenigen Mitarbeitenden. Bei der Mehrheit gilt hingegen: Leistung gegen Gegenleistung auf eher formaler Basis, durchaus in sich fair, aber das war‘s.
Der Prozess der differenzierenden Gruppenbildung
Wie kommt es dazu? Dieser in der frühen Phase der Theoriebildung im Vordergrund stehende Prozess der Differenzierung (differentiation) in unterschiedliche Beziehungsqualitäten können wir uns so vorstellen: Mit dem Eintritt eines Mitarbeiters in eine Organisation beginnt eine Folge von Rollenepisoden, die sich jedoch im Laufe der Zeit verändern.
In einer ersten Phase, der Rollenübernahme (role-taking), treffen Führender und Geführte erstmalig aufeinander (Vorgesetztenwechsel, Neueinstellung). Ihre Interaktion ist aufgrund einer eingeschränkten Informationsbasis durch organisational festgelegte Rollen geprägt. Noch übergreifend ist die Beziehungsqualität eher niedrig und gleicht im Grunde einem ökonomischen Austausch.
In der zweiten Phase, der Rollenbildung (role-making), tauschen die Akteure gegenseitige Erwartungshaltungen aus (v. a. zu den Aufgabenanforderungen bzw. zur Güte der Aufgabenerledigung) und gewinnen dabei ein besseres Verständnis voneinander. Dieser Austausch ist immer noch begrenzt, bildet jedoch eine Art „Testphase“.
Nach einiger Zeit der Zusammenarbeit tritt die dritte Phase, die der Rollenstabilisierung (role-routinization), ein, d. h. jeder der beiden Interaktionspartner weiß, was er vom anderen erwarten kann – oder eben auch nicht. Die Führungskraft ordnet im Regelfall implizit daraufhin seine Mitarbeiter zwei Gruppen zu:
- Die eine Gruppe zeichnet sich durch eine hohe Qualifikation und Motivation aus. Die Geführten verhalten sich ihrem Führer gegenüber loyal und sind bereit, über das arbeitsvertraglich erwartbare Maß hinaus Leistung zu erbringen. Sie bilden die sogenannte In-Group. Zwischen Führer und Geführten besteht eine respektvolle, vertrauensorientierte Beziehung. Der Führer gewährt diesen Geführten besondere Handlungsspielräume, unterstützt sie fachlich und engagiert und sorgt dafür, dass sie von Belohnungen besonders profitieren. Sehr viele empirische Studien, auch Metastudien, weisen positive Effekte auf Einstellungen und andere organisationsrelevante Größen nach. Es existieren klare, positive Zusammenhänge reifer LMX-Beziehungen zu Leistung, Commitment und Arbeitszufriedenheit. Auch geht eine gute Beziehungsqualität mit der Wahrnehmung von prozeduraler und distributiver Gerechtigkeit
- Die andere Gruppe setzt sich aus Geführten zusammen, deren Leistungsvermögen bestenfalls den üblichen Standards entspricht. Diesen Geführten gelingt es nicht, eine intensive Beziehung zur Führungskraft zu entwickeln und sie werden demnach bei der Vergabe von Chancen und Belohnungen nur am Rande berücksichtigt. Austauschtheoretisch bedeutet dies, dass ihre in den Augen des Führers geringeren Investments nur mit vergleichbar geringen Erträgen abgegolten werden. Diese Geführten bilden die Out-Group.
Die Empfehlung und Folgen für die eigene Entwicklung
Wir alle sehen, dass sich Vorgesetzten gegenüber Mitarbeitenden nicht gleich verhalten. Dies kann verschiedene Ursachen haben bis hin zur Missgunst. Diese Führungstheorie erklärt den Vorgang aber rational. Die Ressourcen der Führenden sind begrenzt (v. a. aufgrund von Zeit, Kraft, Umstände) und das Leistungsvermögen, also Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden, sind im Team unterschiedlich.
Da stellt sich natürlich schon aus Vorgesetztensicht die praktische Frage, wie damit umzugehen ist. Normativ könnte mit Recht formuliert werden, dass eine vornehme Führungsaufgabe darin bestünde, alle in einem Team besser zu machen und dort mehr zu investieren, wo der erwünschte Zustand noch nicht erreicht ist. Aber wie soll man sich verhalten, wenn die eigenen Ressourcen selbst begrenzt sind und der Erfolg der eigenen Anstrengung ungewiss ist? Die Leader-Member-Exchange Theorie findet hier eine Antwort: Pflege alle Beziehungen, aber investiere dort mehr, wo der Ertrag für die Gruppe und die Sicherung der eigenen Position höher ist. Die unfreiwillige „Mitgliedschaft“ in einer Ingroup oder Outgroup ist übrigens zwar im Zeitablauf recht stabil, aber nicht fix.
…und, wie wirkt diese Empfehlung auf Dich?
Auf mich wirkt die Theorie sehr Betriebswirtschaftlich-, Ego- und wenig Menschen-orientiert.
Jetzt überspitze ich: Bei bestimmten Beziehungen hat es keinen Zweck, mehr zu investieren, die lasse ich als Führungskraft einfach laufen, weil meine Zeit knapp ist. Da gebe ich lieber „High-Performern“ echte Chancen und meine wertvolle Zeit, so dass das Teamergebnis stimmt und meine Position gesichert ist. Ich konstruiere In- und Out-Groups, denke in Führer und Geführte…
Dieser pragmatische Ansatz hatte in der Vergangenheit bestimmt gute Erfolgschancen. Nach meiner Beobachtung geht die Entwicklung in eine andere Richtung: Weg vom Ich-Denken – hin zum WIR-Denken. Trennende Gedanken und Grüppchenbildung behindern das WIR.
Was kann ich als Führungskraft anders machen?
Viel hilfreicher wäre es, meines Erachtens, mein eigenes Beobachterverhalten zu reflektieren.
Worauf schaue ich? Auf die Defizite in der Arbeitsbeziehung, weil mir jemand unsympathisch ist?
Auf fehlende, erwünschte Kompetenzen, fehlende Loyalität oder fehlende Produktivität? Damit beobachte ich Defizite, Mangelzustände oder Probleme.
Wie wäre mein Beobachtungs-Ergebnis, wenn ich wohlwollend oder zumindest neutral auf das Vorhandene, die individuellen Stärken und Ressourcen schauen würde? Auf das, was unsere Arbeitsbeziehung ausmacht, selbst wenn sie nicht mega intensiv, aber wertschätzend, vertrauensvoll und auf Augenhöhe ist.
Stimmt meine Schublade so wie sie ist, oder ist eine Aktualisierung möglich? Übersehe ich etwas, weil ich nicht darauf achte? Eine (bisher) unzufriedene Arbeitsbeziehung ist ja keine Einbahnstraße, was können wir beide dazu beitragen, dass sie besser wird?
Mir ist durchaus bewusst, dass es keine leichte Aufgabe ist, Gleichberechtigung und eine gute Beziehungsqualität zu leben. Daher macht es Sinn, dieses Ziel auch als Teamaufgabe zu sehen.
Wie wäre es, noch einmal in die zweite Phase der Rollenbildung einzutauchen und die gegenseitigen Erwartungen noch einmal zu reflektieren und anzupassen? Ich bin mir sicher, da sind einige Fehler und Versäumnisse in der gegenseitigen Wahrnehmung abgespeichert, die korrigiert werden können.
Welche Lernchancen könnte ich der Mitarbeiterin/dem Mitarbeiter geben, die ihren/seinen Stärken entspricht und damit zum Teamerfolg beiträgt? Wie kann ich/wie können wir Eigeninitiative und Selbstverantwortung stärken?
Wäre es ebenfalls eine gute Idee, vorhandene Kompetenzen, wie zum Beispiel die Fähigkeit, mit Leichtigkeit ein strukturiertes Excel-Formular zu entwickeln, in einem Lern-Tandem weitergegeben wird? Oder einer Kollegin über die Schulter zu schauen, wie sie mit Leichtigkeit aus einer Chaos-Situation, hilfreiche organisatorische Schritte einleitet, aus der Übersicht und Ordnung entstehen?
So entsteht ein WIR-Kompetenz-Bewusstsein und es kommen automatisch Vorschläge aus dem Team, wer für welches Projekt gut geeignet ist. Dies sorgt für mehr Gerechtigkeit, Arbeitszufriedenheit, Transparenz und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Und der positive Nebeneffekt zeigt sich in der verbesserten Beziehungsqualität.
All das sind Maßnahmen, um den Blick und das Bewusstsein auf die Fähigkeiten zu lenken. Dann klappt es auch mit der Arbeitszufriedenheit!
Mein Fazit: In- und Out-Groups sind out!
Wohlwollendes Beobachten und Stärken der Stärken sind in!
Hättest Du Interesse daran zu lernen, wie Du ebenfalls das WIR-Bewusstsein in deinem Team etablieren kannst? Melde dich gern unter: