„Den nächsten Meilenstein im Projekt schaffen wir nicht pünktlich. Das macht mir richtig Kopfzerbrechen“, stöhnt Karina im Projektmeeting. Die Teamleiterin entgegnet: „Mach dir keine Sorgen, die Anderen sind auch noch nicht so weit“.
Oder ein Mitarbeiter sagt: „Ich habe richtig Angst vor der Präsentation. Hoffentlich zerreißen die Kollegen nicht unser Konzept“. Die Antwort des Vorgesetzten: „Ach, das wird schon nicht so schlimm, du brauchst keine Angst zu haben. Du schaffst das schon!“
Kommt dir das bekannt vor? Vielleicht aus deiner Kindheit?
Beide Antworten folgen einem Impuls, der aus unserer Kindheit stammt. Wenn wir Sorgen hatten, wurden wir getröstet, wenn wir ängstlich waren, ermutigt und Wut wurde meist ganz ausgeschlossen oder bestraft: du darfst nicht wütend sein!
Einerseits gab uns dieses typische „Erwachsenenverhalten“ ein Gefühl von Unterstützung und Sicherheit. Andererseits werden diese unerwünschten Gefühle einfach ignoriert.
Daher ist der Versuch der beiden Führungskräfte eher kontraproduktiv. Karina fühlt sich wahrscheinlich mit ihren Sorgen nicht gesehen und nicht gehört. Oder sie glaubt, dass die Führungskraft sie in Wahrheit als Verliererin abstempelt.
Um dem entgegen zu wirken, wird sie wahrscheinlich noch mehr Energie aufwenden, um ihre Sorge sichtbar zu machen. Der Versuch, sie zu trösten, drängt sie also tiefer in die Sorge hinein und motiviert sie, noch mehr darüber zu reden. Entweder bei der Führungskraft oder bei ihren Kolleg:innen.
Hilfreicher ist es in solch einem Fall, wie ein guter Coach vorzugehen. Er geht davon aus, dass jedes Gefühl aus gutem Grund entsteht und wichtige Hinweise gibt.
Hierzu etwas „Theoriefutter“ von G. Thomson zu Gefühlen:
Sinnvoll genutzte Gefühle stellen für den Menschen eine überlebenswichtige Bewegungs- und Handlungsenergie zur Verfügung. Für Erwachsene sind Gefühle verwoben mit erlebten Situationen, Interpretationen und Bewertungen.
Sie sind elementar wichtig für die Bedürfnisbefriedigung und stehen auch für den Erwachsenen in Verbindung mit der (Nicht-) Erfüllung von Bedürfnissen. Das Lebensbedürfnis nach Schutz und Überleben ist z.B. unbedingt auf das Funktionieren des Grundgefühls Angst angewiesen. Ohne dieses somatisch angelegte Warngefühl würden Menschen gefahrenvolle Situationen nicht erkennen können.
Wenn Menschen alle wesentlichen Grundgefühle spüren und sie als „inneren Kompass“ handlungsleitend nutzen können, stellt das eine gute Bedingungen für Wachstum und eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung dar.
Grundgefühle sind: Ärger, Traurigkeit, Angst und Freude.
Wer wütend wird, zeigt dadurch, dass er bereit ist, für seine Werte zu kämpfen. Und wer verzweifelt ist, dokumentiert damit, wie wichtig ihm oder ihr eine Lösung ist. Durch eine Gesprächsführung, die solche Gefühle herausarbeitet und würdigt, lassen sich Menschen auf einer tieferen Ebene erreichen, und es kann ihnen im wahrsten Sinn des Wortes zu mehr Selbst-Bewusstsein verholfen werden.
Daher macht es Sinn, die Gefühlsäußerung niemals wegzuwischen, sondern die positive Absicht dahinter herauszuarbeiten. Damit kann das scheinbar negative Gefühl in dessen Wahrnehmung mitunter in völlig neuem Licht erstrahlen.
So hätte die Führungskraft zum Beispiel folgendes sagen können: „Deine Sorge um die Einhaltung des nächsten Meilenstein-Termins zeigt mir, wie wichtig es dir ist, deine Zuarbeit pünktlich zu erledigen. Damit wir das Projekt „just in Time“ erledigen können, lass uns mal schauen, was für Ideen wir haben, damit wir die Terminsituation entspannen können“.
Jetzt hat die Sorge keinen negativen Touch sondern wird als hilfreichen Hinweis empfunden. Durch die Wir-Form zeigt die Führungskraft, dass sie gemeinsam an einem Strang ziehen. Sie belehrt nicht, sondern bezieht sie mit ein. Oftmals finden sich so die besten Lösungen.
Wenn du also beim nächsten Mal den Impuls verspürst, eine andere Person zu trösten, zu beruhigen oder Gefühle spontan wegzuwischen, probiere einmal diese Variante aus.
Gern schreibe mir eine persönliche Nachricht, oder hinterlasse einen Kommentar, was es sowohl bei dir als auch bei deinem Gegenüber bewirkt hat: